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Aufmerksamkeit

Zwei Luftballons

Zwei Kinder spielen im Hof. Jedes hat einen Luftballon. Das eine Kind verliert die Leine, der Luftballon steigt zum Himmel. Das Kind weint herzzerreissend: „Der Luftballon ist weg! Der Luftballon ist weg!“

Nach einer Weile lässt auch das andere Kind im Spiel die Schnur seines Luftballon los. Auch dieser Luftballon steigt zum Himmel. Fröhlich tanzend klatscht das Kind in die Hände: „Schau mal, wie schön er steigt. Er fliegt zur Sonne.“ (Mit freundlicher Genehmigung des Traumzeit-Verlags aus dem Buch „Geschichten wie Edelsteine“ von Joachim-Ernst Berendt)

Zwei identische Begebenheiten, zwei fundamental verschiedene Erfahrungen! Wie kommt das? Viele von uns kennen diesen verhängnisvollen Moment, wenn einem unbeabsichtigt die Schnur eines Luftballons aus der Hand gleitet. Im nächsten Moment: Ooohh!!!… oh, wie schön der Anblick eines Ballons, der zum Himmel steigt und … oh, wie schade, dass ich ihn verloren habe. Im gleichen Augenblick sind da Trauer und Freude.

Energie folgt der Aufmerksamkeit 

Die zwei Kinder in dieser Geschichte demonstrieren die Wirkung der Aufmerksamkeit. Eines richtet seine Aufmerksamkeit auf die Freude über den schönen Anblick eines emporfliegenden Ballons, das andere lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Trauer über den Verlust. Beide Gefühle sind da, beide Gefühle sind echt, doch die simple, innere Weichenstellung entscheidet über die  Erfahrungswelt, die daraus folgt. Das Gefühl, das in dem Moment, wo der Ballon davon fliegt, Beachtung bekommt und dadurch an Energie gewinnt, wird zum beherrschenden Element. In diesem Vorgang zeigt sich ein grundlegendes Prinzip: Energie folgt der Aufmerksamkeit. Um es etwas ausführlicher zu sagen: Das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, bekommt Energie, wird bestärkt und betont, erhält Kraft und Dauer. Was wir hingegen unbeachtet lassen, was keine Aufmerksamkeit bekommt, verliert an Energie, wird schwächer und vergeht.

Sei aufmerksam auf deine Aufmerksamkeit!

Viele Menschen kennen heute vor allem die Gefahr der Verzettelung, aufgrund der zahllosen Ablenkungen durch Lärm, Werbung, Smartphone und einem Lifestyle der viel, schnell und überall priorisiert. Das führt dazu, dass sich die Aufmerksamkeit schnell vom einen Anziehungspunkt zum andern verschiebt, ohne dass wir uns dessen wirklich bewusst sind und die Wahl dazu getroffen haben. So kann sich unsere Energie nirgendwo richtig bündeln, man ist zwar immer beschäftigt, aber nur wenig effizient. Das ist ziemlich frustrierend und führt im Extremfall zu Depression oder in ein Burnout. 

Die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit von einer Sache auf eine andere zu verschieben, muss aber nicht dem Zufall, den äusseren Einflüssen oder der Gewohnheit überlassen werden. Aufmerksamkeit erlaubt uns zu bemerken, zu wählen und zu dirigieren wohin unsere Energien fliessen. Sie ist ein machtvolles Instrument, ganz besonders auch unsere psychischen Energien so zu dirigieren, dass sie der Entfaltung unseres Lebens dienen. Wir können lernen, unsere Aufmerksamkeit von Gefühlen, Gedanken, Phantasien, Vorstellungen, die uns unangenehm sind, die uns schwächen, oder limitieren, auf solche zu verschieben, die uns aufbauen, stärken und wachsen lassen.

Aufmerksamkeit ist anfällig

Es gibt viele Faktoren, die einen schwächenden Einfluss auf die Kraft und Intensität der Aufmerksamkeit ausüben. Zu den äusseren Faktoren zählen Situationen, in denen wir grossen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt sind. Die inneren Ursachen sind besonders die umherschweifenden Gedanken. Damit die Aufmerksamkeit ihre guten Dienste voll entfalten kann, braucht sie also etwas Training

Zunächst geht es darum, die Aufmerksamkeit unter die Führung des Ichs zu bringen und zu lernen sie mit Absicht und Bewusstheit zu lenken.

Folgende Übung ist dazu besonders geeignet und auch sehr einfach in den Alltag zu integrieren. Man braucht dazu bloss die Absicht sie zu tun, sowie 5–10 Minuten Zeit.

Fokus-Flexibilität

Die Absicht dieser Übung ist zu lernen den Fokus der Aufmerksamkeit bewusst zu lenken, seine Flexibilität auszudehnen und seine Präzision zu steigern.

Das Feld unserer Aufmerksamkeit umfasset zum einen die äussere Welt, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können: das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und das Spüren äusserer Einflüsse auf unseren Körper. Zum anderen umfasst das Feld der Aufmerksamkeit auch die innere Welt mit den Gefühlen, Gedanken und den inneren Empfindungen unseres Körpers.

Während den nächsten 5–10 Minuten lenke den Fokus deiner Aufmerksamkeit von einer bewussten Erfahrung zu einer nächsten bewussten Erfahrung. Wechsle dabei jeweils zwischen inneren und äusseren Erfahrungen ab. Verweile jeweils 10 Sekunden bei einer Erfahrung, halte deinen Fokus möglichst präzise und wähle dann einen nächsten Fokus.

Das geht dann etwa so:

Ich spüre den Stuhl unter meinem Gesäss …(10 Sek.) … ich sehe den Baum im Garten … (10 Sek.) … ich spüre Spannung in meinen Schultern … (10 Sek.) … ich höre Stimmen in der Ferne … (10 Sek.) … ich schmecke den Geschmack von Kaffee auf meiner Zunge … (10 Sek.) … usw.

Wenn man sich damit vertraut gemacht hat, die Aufmerksamkeit bewusst zu lenken, kann man lernen, den Fokus der Aufmerksamkeit stabil zu halten.

Die nächsten drei Achtsamkeitsübungen geben Impulse, wie man Fokus-Stabilität einüben und langfristig pflegen kann.

Achtsames Atmen

Die Übung des achtsamen Atmens kultiviert die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit stabil zu halten und dabei alle anderen Eindrücke bei Seite zu lassen. 

Beginne mit einer Übungsdauer von 10 Minuten. Wenn du bemerkst, dass dein Fokus stabiler wird, kannst du die Dauer nach und nach bis auf 30 Minuten steigern.

Nimm eine bequeme, aufrechte Sitzhaltung ein und richte deine Aufmerksamkeit auf deinen Atem. Fokussiere dich dabei auf einen Aspekt der Atmung, der eng mit einer körperlichen Empfindung verbunden ist. Zum Beispiel die Auf- und Abbewegung des Bauch- und Brustraumes oder das Spüren der Luft, die durch die Nase ein- und ausströmt. Verweile in einer guten Spannung bei dieser Aufgabe.

Wenn du in Gedanken abschweifst oder durch äussere Eindrücke abgelenkt wirst, hole dich liebevoll und konsequent zum Empfinden deines Atems zurück. 

Anfänglich wirst du dich immer wieder dabei ertappen, weit weg und für längere Zeiten von der Übung abzuschweifen. Das ist weder erstaunlich noch ein Grund aufzugeben. Mit viel Freundlichkeit und Geduld bringe dann einfach deine Aufmerksamkeit zurück zum Atem.

Achtsames Gehen

Eine weitere Variante, um die Stabilität der Aufmerksamkeit zu üben, ist das achtsame Gehen.

 

Wähle dazu einen geeigneten Ort, draussen oder drinnen, wo du möglichst wenig Ablenkung hast. Bestimme dafür anfänglich eine Dauer von 10 Minuten, die du mit der Zeit ausdehnen kannst.

 

Richte deine Aufmerksamkeit auf die Empfindungen beim Gehen: Spüre die Berührung der Füsse mit dem Boden, die Verlagerung des Körpergewichts von einem Bein auf das andere, die rhythmische Bewegung, die durch den ganzen Körper geht. Es empfiehlt sich für diese Übung einen gemächlichen Gang zu wählen.

 

Wenn du magst, kannst du dabei den Rhythmus der Schritte mit dem des Atmens verbinden.

 

Wenn du bemerkst, dass du in Gedanken abgeschweift bist oder äussere Eindrücke dich abgelenkt haben, kehre einfach wieder zu den Empfindungen des Gehens zurück und fahre mit der Übung fort.

Körper-Scanning

Das Körper-Scanning trainiert die Aufmerksamkeit, die in der Qualität von spürendem inneren Gewahrsein Schritt um Schritt durch den ganzen Körper gelenkt wird.

 

Wähle eine bequeme sitzende oder liegende Position. Beginne beim rechten Fuss und lenke deine Aufmerksamkeit in die Zehen, dann in die Fusssohle, die Ferse, den ganzen Fuss. Dann den Unterschenkel, den Oberschenkel und das Hüftgelenk. Verfahre in gleicher Weise mit dem linken Bein und dem Rest des Körpers.

 

Wenn du dabei abschweifst, hole dich geduldig zur Übung zurück und fahre da fort, wo du ausgestiegen bist.

Fokus-Flexibilität
Achtsames Atmen
Achtsames Gehen
Körperscanning
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Die Aufmerksamkeit bewohnen

Nach all diesen Übungen wäre man vielleicht geneigt, Aufmerksamkeit bloss als ein mentales Werkzeug mit praktischem Nutzen zu sehen. Doch sie ist viel mehr als das. Ich möchte hier noch zu einem weiteren Schritt einladen:

Stell dir vor, du richtest deine Aufmerksamkeit auf das Bild einer Hauskatze. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht zunächst das visuelle Bild des Tiers mit flauschigem Pelz, buschigem Schwanz, spitzigen Ohren und wachen Augen. 

Richte nun auch die Welt deiner Gefühle auf dieses Bild. Nähre den Fokus deiner Aufmerksamkeit mit den Gefühlen, die dieses Tier in dir weckt. Nimm wahr was dabei geschieht. 

Jetzt lass auch dein Körper mit dem Bild der Katze in Resonanz treten. Nähre den Fokus deiner Aufmerksamkeit mit deinen Empfindungen und beobachte, was dabei geschieht.

Und dann lass  auch die Welt deiner Gedanken mit dem Bild der Katze in Resonanz treten.

Spüre, wie der Fokus deiner Aufmerksamkeit an Intensität gewinnt.

Aufmerksamkeit gewinnt ein Vielfaches an Intensität, wenn wir lernen, sie auch mit unseren Gefühlen, Empfindungen und Gedanken zu nähren. Auf diese Weise wird sie zu einem ganzheitlichen Geschehen, das wir mit unserer ganzen Lebendigkeit bewohnen.

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