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Synthese

Ein Muster der Evolution

Synthese ist in der Psychosynthese - der Name sagt es - ein zentrales Konzept. Assagioli versteht die menschliche Selbstverwirklichung nicht als isoliertes Phänomen. Für ihn ist der im Menschen angelegte Impuls zum inneren Wachstum ein Ausdruck und die Realisierung einer umfassenden evolutionären Bewegung von universal-kosmischer Dimension. In diesem Zusammenhang spielt die Synthese eine fundamentale Rolle. Sie ist das organisierende Prinzip im Prozess der Differenzierung und Integration, welche der Evolution zu Grunde liegt. Synthese ist also nicht etwas, das es nur in der Psychosynthese gibt. Sie ist ein Muster der Evolution und daher in verschiedenen Zusammenhängen und Kontexten anzutreffen.

 

Zum Beispiel in der Chemie. Da bezeichnet der Begriff Synthese die Verbindung einfacher Bestandteile zu einem neuen komplexeren Stoff. Zum Beispiel: Bei normaler Temperatur sind Wasserstoff (H2) und Sauerstoff (O) gasförmige Substanzen. In ihrer Verbindung als Wasser (H2O) jedoch bilden sie eine neue Substanz mit neuen Eigenschaften.

 

In der Philosophie bezeichnet der Terminus Synthese den dritten Schritt eines Erkenntnisprozesses und formuliert die Verbindung zweier gegensätzlicher Begriffe oder Aussagen zu einer neuen Aussage, in welcher der Widerspruch aufgehoben ist und einer neuen Wahrheit Ausdruck verleiht.

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Angewendet auf die lebendige und konkrete menschliche Psychologie, wirft das Prinzip der Synthese ein klärendes Licht auf den Umgang mit psychologischen Polaritäten, von denen es im Menschen so viele gibt. Im Verständnis der Psychosynthese sind Polaritäten, zum Beispiel zwischen Teilpersönlichkeiten mit divergierenden Bedürfnissen, nicht da, um aufgehoben oder eliminiert zu werden. Vielmehr sollte ihre Gegensätzlichkeit als kreative Spannung genutzt werden, um sie beide in eine grössere Wirklichkeit zu integrieren. Das ist mit Synthese gemeint. Die höhere Einheit, in der zum Beispiel polare Kräfte oder gegensätzliche Bedürfnisse aufgehoben und transformiert werden, ist mehr als ein blosses Miteinander- oder Nebeneinanderexistieren. Im Prozess der Synthese werden die Widersprüchlichkeiten überwunden und transzendiert, während eine höhere Wirklichkeit aktualisiert wird. 

Drei konkrete Beispiele 

In den unten abgebildeten Dreiecken stellen die Basispunkte rechts und links die gegensätzlichen Qualitäten oder polaren Kräfte dar. Die Position in deren Mitte ist ein Kompromiss oder Mittelweg, während an die Spitze des Dreiecks die Synthese der Gegensätze repräsentiert.

Beispiel 1
Synthese-Dreieck Flexibilität

Wer Kinder hat und sich bemüht, ihnen ein guter Vater oder eine gute Mutter zu sein (oder wer als Lehrerin seinen SchülerInnen eine gute Begleiterin sein will), kennt die Herausforderung, zwischen Nachgiebigkeit und Sturheit eine angemessene Haltung zu finden. Ist man zu nachgiebig, gibt man dem Kind zu wenig Orientierung und damit Sicherheit. Tendiert man zu sehr zur Sturheit, besteht die Gefahr, dass sich der lebenswichtige Wille des Kindes nicht gesund entwickeln kann, verkümmert oder verzerrte Ausdrucksformen bekommt. Sucht man auf der gleichen Ebene nach einem Kompromiss oder einem Mittelweg zwischen Nachgiebigkeit und Sturheit, ergibt sich höchst wahrscheinlich eine wankelmütige Haltung, die mal so, mal anders entscheidet und für das Kind Unberechenbarkeit bedeutet. Bringt man hingegen Nachgiebigkeit und Sturheit in eine kreative Spannung, verbunden mit der Absicht die eigene Elternschaft zum Wohle des Kindes zu kultivieren, kann man in eine erstaunliche und tief befriedigende Flexibilität hineinwachsen.

Beispiel 2
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Die meisten Menschen kennen den Wunsch, ein Projekt oder eine Idee zu realisieren, und die damit verbundene Herausforderung, zwischen emotionaler Impulsivität und rationaler Kontrolle das Vorhaben so anzupacken, dass es erfolgreich gelingen kann. Ist man zu sehr zur Impulsivität geneigt, kann es sein, dass man bei der Planung oder Umsetzung wichtige Aspekte übersieht oder Konsequenzen missachtet. Möchte man jedoch alles zu sehr rational kontrollieren, besteht die Gefahr, den nötigen Elan und die Begeisterung für das Vorhaben zu verlieren. Versucht man dieses Problem auf der gleichen Ebene zu lösen, etwa mit einer Zwischenlösung zwischen emotionaler Impulsivität und rationaler Kontrolle, könnte die daraus folgende Unentschlossenheit oder Zögern das Projekt kompromittieren. Gelingt es jedoch Impulsivität und Kontrolle als innere Spannung kreativ zu nutzen, zu verbinden und zu transformieren, kann ein Projekt durch besonnenes Handeln erblühen.

Beispiel 3
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Der Umgang mit Menschen ist immer anspruchsvoll, besonders wenn man mit Personen zu tun hat, die man nicht gut kennt. Wie soll man sich verhalten? Tendiert man dazu, allzu vertrauensselig zu sein, kann die eigene Naivität uns selber und anderen Schaden bringen. Ist man eher geneigt, misstrauisch zu sein, wird diese Haltung verhindern, dass sich eine fruchtbare Beziehung entwickelt. Sucht man auf der gleichen Ebene einen Mittelweg zwischen Naivität und Misstrauen, wird man mit Zurückhaltung vorgehen, Vorbehalte und Kontrollmechanismen in die Beziehung einbauen und dadurch das Gegenüber nicht wirklich erkennen und wertschätzen können. Gelingt es einem den Widerspruch zwischen Naivität und Misstrauen durch die Vision einer konstruktiven und authentischen zwischenmenschlichen Verbindung zu überbrücken, kann man in sich eine höhere Form von Vertrauen entwickeln. Diese wurzelt in der Gewissheit , dass der Menschen im Grunde gut ist und akzeptiert gleichzeitig  die unvermeidlichen Überraschungen des Lebens.

Das regulierende Prinzip

Um eine Synthese unserer vielfältigen und teils widerstrebenden Impulse, Kräfte, Gefühle, Gedanken usw. zu ermöglichen, „braucht es die ständige Präsenz und das kraftvolle Wirken eines höheren regulierenden Prinzips“, sagt Assagioli.

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Was als regulierendes Prinzip infrage kommt, variiert von Person zu Person. Häufig kann eine Leidenschaft, ein konkretes Lebensziel oder eine Aufgabe, die man sich stellt, diese Funktion übernehmen. Für eine Leidenschaft zum Beispiel ist man bereit, in jeglicher Beziehung sein Bestes zu geben. Man mobilisiert die eigene Kreativität, aktiviert latentes Potential, entwickelt ungeahnte Fähigkeiten, setzt physische Kräfte ein. Eine Leidenschaft ist bereit, Opfer zu bringen. Das kann heissen, dass man auf Bequemlichkeit oder Ablenkung verzichtet, Anstrengung auf sich nimmt und den Willen einsetzt. Ein Ideal zu verfolgen oder eine Lebensabsicht zu verwirklichen, hat eine erstaunliche Macht, psychische Synergien zu schaffen, und kann so auch widerstrebende innere Tendenzen auf ein solches höheres Ziel hin lenken, transformieren und vereinen. 

Lebensziele und Leidenschaften, die sich vor allem auf die personale Ebene beziehen, wie zum Beispiel eine berufliche Karriere machen, eine eigene Familie gründen oder den Mount Everest besteigen, begünstigen die sogenannte personale Psychosynthese, deren Ziel die Entwicklung einer harmonischen und wohlfunktionierenden Persönlichkeit ist.

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Darüber hinaus aber gibt es die transpersonale oder spirituelle Psychosynthese, zu der sich Menschen hingezogen fühlen, die nach der Erkenntnis der eigenen höheren Natur und der Vereinigung mit dem allumfassenden Seinsgrund streben. In dieser Form der Selbstverwirklichung übernimmt das höhere Selbst die Funktion des vereinigenden Prinzips und begünstigt jene höchste Form der Synthese - das Bewusstsein der All-Einheit -, wo ich und alles und das Ganze als Eins erkannt wird. Wenn dieses höchste Prinzip im Menschen „erwacht und aktiv wird“, sagt Assagioli, „bringt es Ordnung, Harmonie und Schönheit. Es transformiert nach und nach den schwachen und unsicheren Menschen, der in sich selbst gespalten ist und von schmerzhaften Gegensätzen aufgewühlt wird, in eine lautere und stabile Person; in ein Zentrum des Feuers und des Lichts, das hohe und wohltuende spirituelle Energien ausstrahlt".

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Psychosynthese kann auch als individueller Ausdruck eines umfassenderen Prinzips angesehen werden, eines allgemeinen Gesetzes interindividueller und kosmischer Synthese.

Roberto Assagioli

Perspektiven

Das Bestreben nach Synthese endet nicht beim Individuum. Aus einer grösseren, globalen Perspektive ist die individuelle Psychosynthese eine Vorbereitung und Voraussetzung für eine umfassendere Bewegung, die wir heute wachsen sehen. Globale Verbindungen, wie die UNO mit ihren vielen Unterorganisationen, die EU und viele weitere übernationale Vereinigungen, zeugen von den menschlichen Bemühungen Ordnung und Synthese in die vielfach noch chaotischen Tendenzen und widerstreitenden Kräfte der Menschheit zu bringen. Auf gesellschaftlicher Ebene tauchen vermehrt Begriffe auf wie Wir-Kultur, We-spaces, Commons usw., die zeigen, wie avantgardistische Bewegungen heute nach neuen, zukunftsorientierten Formen von Synthese, nach gerechteren mit- und zwischenmenschlichen Verbindungen suchen und diese trotz aller Widerstände gesellschaftlich zu etablieren versuchen.

 

Viele Prinzipien und Konzepte der Psychosynthese können auf die anspruchsvollen integrativen Prozesse von Gruppen - in der Arbeitswelt, zwischen Kulturen und alle Formen zwischenmenschlicher Verbindungen - übertragen und dem Kontext entsprechend angewendet werden, um zu helfen, solche Verbindungen konstruktiv zu gestalten. So kann die Psychosynthese in ihrer ganzen Ausdehnung dazu beitragen, mit Elan, Begeisterung und Sorgfalt den Weg zu bereiten für eine globale Synthese des Lebens auf und mit unserem Planeten, wo sich die Menschheit mit der Tier- und Pflanzenwelt als ein organisches Ganzes entfaltet.

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