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Stille

Es ist unüberhörbar

Das Leben ist laut geworden, sehr laut! „Eines Tages wird der Mensch den Lärm ebenso unerbittlich bekämpfen müssen, wie die Cholera und die Pest.“ Diese Vorahnung von Robert Koch, dem Bakteriologen und Nobelpreisträger für Medizin von 1905, bewahrheitet sich heute. Die Welt wird immer lauter, im Rhythmus von einem halben bis einem ganzen Dezibel pro Jahr, meinen Fachleute. Lärm wird vom Menschen bewusst oder unbewusst als Belästigung erfahren und stellt für seine Gesundheit eine Belastung dar. Verschiedene Forschungen zum Thema Lärm kommen zum Schluss, dass sich anhaltende Lärmbelästigung negativ auf die Kommunikations- und Konzentrationsfähigkeit des Menschen auswirken sowie seine Erholung und Entspannung beeinträchtigen. 

Demgegenüber belegen neueste Erkenntnisse der Hirnforschung, dass die Stille eine Quelle der Regeneration, ja sogar ein Jungbrunnen für das Gehirn ist, und attribuieren ihr positive und konstruktive Aspekte wie  grössere Stressresistenz, Zuwachs an Kreativität, Aktivierung der Intuition und eine Verbesserung der Selbstwahrnehmung. 

In der Stille wohnt eine Kraft

Es macht Sinn, zwischen äusserer und inner Stille zu unterscheiden. Äussere Stille ist charakterisiert durch Geräuscharmut, Ruhe und die Abwesenheit von Hektik, Ablenkung und Betriebsamkeit. Innere Stille hingegen ist ein subjektives Empfinden, das sich einstellt, wenn – durch äussere Stille begünstigt oder durch Übung erworben – die Sinnesempfindungen zur Ruhe kommen, der Körper sich entspannt, die geistigen Aktivitäten in den Hintergrund treten und sich der innere Raum weitet. In der Kombination beider Aspekte wird die Stille zu einer Kraft mit therapeutischer Wirkung und spiritueller Bedeutung. Assagioli war sich dessen bewusst und gab ihr als methodisches Element in der Psychosynthese Raum. 

Wirkung der Stille 

Wer äussere Stille sucht und innere Stille pflegt, erfährt es ganz unmittelbar: Stille begünstigt die Introspektion und regt zur Selbstreflexion an. Es gibt zwar viele Wege in die Stille, alle aber führen durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit sich selbst. Wenn die alltäglichen Ablenkungen wegfallen, die permanente Geräuschkulisse verschwindet und die andauernden Aktivitäten eingestellt werden, begegnet man sich selbst – eine Herausforderung und ein Segen zugleich. Denn die Stille erlaubt uns herauszufinden, wer wir sind und was wir wollen, sie konfrontiert uns mit dem, was im eigenen Leben vielleicht schief läuft und eine Kurskorrektur erfordert. Sie macht uns körperlich gesünder, psychisch stabiler und resistenter in Bezug auf Stress und Belastungen verschiedener Art. Darüber hinaus klärt sie den Geist, macht uns einsichtig in das eigene Wesen, empfindsam für die Interdependenz allen Lebens und schafft einen Bezug zum Grund des Seins. 

Türöffner zum höheren Bewusstsein

Die Technik der inneren Stille beabsichtigt, eine gewisse Beruhigung in die unkontrollierten und unabhängigen Aktivitäten unserer Persönlichkeit zu bringen. Wenn die Unruhe des Körpers nachlässt, das Auf und Ab der Gefühle abklingt und der plappernde Strom der Gedanken verstummt, öffnet sich der höhere oder transpersonale Bewusstseinsraum, wo wir mit den subtileren Qualitäten des Selbst, unseres wahren Wesens, in Kontakt kommen. Die Qualität des Gewahrseins auf dieser Ebene ist reine Bewusstheit und klare Präsenz. Sie ruht in sich selbst, ist geprägt von Stille und gewährt tiefen Frieden. Sie ist frei von Form und erscheint leer und weit und grenzlos, ist durchdrungen von Freiheit. Die Weite dieses Bewusstseinsraums bedeutet auch Rezeptivität, Offenheit des Herzens, Unvoreingenommenheit, Mitgefühl und bedingungslose Liebe. Wenn wir diese transpersonalen Qualitäten erfahren, haben wir die Gewissheit mit unserem tiefsten Innern in Berührung zu sein, authentisch und nah bei uns selber zu sein. Dann sind wir nicht länger in den lärmigen Inhalten unseres Bewusstseins verloren oder gefangen, sondern verweilen in der inneren Stille. 

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Die nicht gesprochenen Worte

sind die Blüten der Stille

(Japanisches Sprichwort)

Tempel der Stille

Übung: Tempel der Stille

Folgende Imaginationsübung ist eine grundlegende Technik der Psychosynthese, um das Bewusstsein auf die subtilen Qualitäten des transpersonalen Bewusstseinsraums einzustimmen. Dabei wird die Qualität der Stille als Zugang genutzt.

Tempel der StilleCatherine Brunner Dubey
00:00 / 07:08

Verarbeitung der Erfahrung: Wie hast du die Essenz oder Qualität der Stille wahrgenommen? Was könnte sich verändern, wenn mehr von dieser Kraft der Stille in deinem Leben präsent wäre? Wenn du magst, mach dir ein paar Notizen zu den wesentlichen Punkten deiner Erfahrung.

Wenn man sich anhand obiger Übung mit der Stille vertraut gemacht hat, kann man beginnen, den Zustand der inneren Stille auch in alltäglichen Situationen in sich zu evozieren, oder wann immer man das Bedürfnis verspürt. Es braucht nicht so viel Zeit, um bei der Erfahrung anzuknüpfen. Es genügt, sich vorzustellen, dass man im Tempel der Stille ist und dass die Stille und ihre verwandten Qualitäten einem unmittelbar zufliessen. Wenn dann auch dieser Schritt selbstverständlich geworden ist, kann man die imaginativen Bilder des Tempels weglassen und lediglich das Bewusstsein in Resonanz bringen mit der Energie und dem Klang der Stille.

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